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Wilson Benesch Vertex

Wilson Benesch: Regalbox war gestern.

Heute heißen wir eine neue Lautsprechergattung willkommen: den Standlautsprecher mit minimiertem Gehäuse.

Keiner meiner Bekannten ist so verrückt wie ich. Es hat gedauert, das einzusehen, aber jetzt habe ich begriffen: Es ist sinnlos, ihnen Standlautsprecher zu empfehlen. Standlautsprecher sind Möbel, die im Weg herumstehen. Das sage nicht ich, das sagen meine Bekannten. Oder deren Lebenspartner/innen. So oder so, es läuft auf dasselbe hinaus: Wenn überhaupt, dann kommen nur Regalboxen ins Haus. So nenne nicht ich sie, so nennen sie meine Bekannten. Und schon haben wir den Salat.
Zum einigermaßen ernsthaften Musikhören – also im Gegensatz zum Sich-bedüdeln-Lassen – gehört eine gewisse Bühnenperspektive. Also: hier ich, vor mir die Musik. Praktischerweise lässt sich die sehr einfach simulieren: mit zwei Lautsprechern, die den Hörer in einer Dreieckskonfiguration auf Ohrhöhe anspielen. Das mit der Ohrhöhe machen Standboxen automatisch richtig. Kompaktwandler brauchen dafür einen Ständer. Der, obwohl essenziell, fast immer separat zu erwerben ist. Was viele abschreckt. Brauch ich nicht, zu teuer, hab’ ein Regal/zwei Stühle/Platz unter dem Tisch – was auch immer. Ein Trauerspiel. Weniger Fehlerquellen
Ganz davon abgesehen, dass genauso wie der Abstand zu Seiten- und Rückwand auch die Distanz zum Boden den Klang beeinflusst und bei vielen Lautsprechern vernünftigerweise mit in die Entwicklung einbezogen wurde. Außerdem sollten die Massenverhältnisse zwischen Box und Stativ stimmen. Und die Art der Ankopplung zwischen beiden. Ein mitgelieferter Ständer würde also bedeuten: eine ganze Menge Variabler, ergo potenzieller Fehlerquellen weniger. Halleluja! Wilson Benesch treibt das Mitdenken mit seiner Zweiwege-Box Vertex noch einen Schritt weiter. Der passende Ständer gehört hier nicht nur zum Lieferumfang, er ist mit dem Schallwandler ab Werk fest verschraubt. Und zwar bombenfest. Die Lautsprecher kommen in zwei Kombi-füllenden Paketen. Von wegen Kompaktwandler. Die Konsequenz der Briten ist schon bewundernswert.

Carbon-Manufaktur
Ist es eigentlich noch nötig zu erwähnen, dass eine Hauptzutat der Vertex Kohlefaser ist? Wilson Benesch, das bedeutet ja geradezu synonym: Kohlefaserlautsprecher. Die ultraleichte, mit exzellenten mechanischen Belastungswerten gesegnete Chemiefaser ist in allem zu finden, was die englische Audio-Manufaktur verlässt. Sogar für einen Tonabnehmer haben sie dort eine Kohlefaser- Einschalung geschneidert. Für die Vertex wurde die gesamte hintere Hälfte des Gehäuses als Carbonteil realisiert. Weil die Bassreflexrohre im Lautsprecherboden eingesetzt sind und die Anschlüsse in den Ständer wanderten, sieht das von hinten durchaus spektakulär aus. Man fragt sich ständig: Fehlt da nicht etwas …? Aber das ist nicht der eigentliche Witz an der Vertex. Sondern: Die Vertex und ihre größere Schwester Vector sind die ersten Lautsprecher von Wilson Benesch mit ausschließlich selbstgefertigten Treibern. Genau: Nach dem schon länger produzierten Tactic-Tieftöner ist nun endlich auch der eigene Hochtöner da. Das Eigengewächs ist eine „Semisphere“ getaufte, ein Zoll (25 Millimeter) durchmessende Seidenkalotte. Mit – was denn sonst – Kohlefaseranteil.

Wir bauen alles selber
Es ist ja nicht so, dass Wilson Benesch aus Eitelkeit oder Arroganz alles selbst machen möchte. Die Engländer folgen einem Masterplan. Ein Blick auf die Frequenzweiche der Vertex führt auf die richtige Spur: Dem Hochtöner sind eine Spule und ein Kondensator vorgeschaltet; dem Tieftöner: nichts. So etwas geht nur mit Treibern, deren mechanische und elektrische Parameter zu 100 % dem Einsatzzweck angepasst sind. Entsprechend bejaht Entwickler Craig Milnes die Frage, ob der nach seinen Vorstellungen perfekte Lautsprecher ganz ohne Frequenzweiche auskäme. Mit seiner Arbeit versucht er, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Indem er nicht mehr „nur“ auf nach eigenen Spezifikationen modifizierte Großserienware der üblichen Zulieferer zurückgreifen muss, sondern wirklich absolut alles selbst bestimmen kann, minimiert er die Notwendigkeit externer Korrekturen durch elektrische Bauteile – oder macht sie gar völlig überflüssig.
Noch einmal Entwicklungsphilosophie: Resonanzen, die immer auftreten und nur selten erwünscht sind, hungert Wilson Benesch quasi aus. Wo möglich, wird Masse reduziert und Steifigkeit maximiert. Damit wandern Resonanzfrequenzen in die Höhe und lassen sich dort mittels geschickter Materialkombination auslöschen.
Der Trick funktioniert bei Wilson Beneschs Gehäusebauweise natürlich prächtig. Steifes und leichtes Carbon-Sandwich von satten 18 Millimetern Dicke, kombiniert mit Front- und Seitenteilen aus Aluminium, oben und unten jeweils Acryl/ Stahl-Schichtwerk mit viskoelastischer Bedämpfung – so kontrolliert sich das Vertex-Gehäuse auch ohne innere Versteifungen perfekt selbst.

Englischer Breitbänder
Der Tieftöner ist aus zahlreichen Wilson-Benesch-Boxen bekannt. Beziehungsweise: dessen Grundaufbau. Mir selbst ist er in den Modellen Curve (als „Tactic“) und A.C.T. C 60 („Tactic II“) begegnet. Während die Basis aus superstarkem Neodym- Magnet und aerodynamisch optimiertem Magnet- und Korbdesign bleibt, stimmen die Entwickler die Massenverhältnisse der schwingenden Teile auf den jeweiligen Einsatzzweck – Tieftöner oder Tiefmitteltöner – ab. Im Vertex-Gehäuse hat der mit einem gegenüber der Ur-Version um 20 % verstärkten Magnetsystem bestückte Tactic-II-Konus im Alleingang fast sieben (!) Oktaven zu bewältigen. Dass er das schafft, ist nicht zuletzt dem Membranmaterial zu verdanken. Die verwendete Polymerfaser verbindet hohe Steifigkeit mit ausgezeichneter innerer Dämpfung. Dank einer thermischen Behandlung – die „rohen“ Konusse werden gewissermaßen gebacken – ändert sich die molekulare Struktur der Membranoberfläche, am Ende hält Wilson Benesch trotz der Verwendung nur eines Werkstoffes Membranen mit sandwichartigen Qualitäten in Händen. Nur so, heißt es, sei zu erreichen, dass der große Konus selbst noch bei der Übernahmefrequenz von fünf Kilohertz kontrolliert abstrahlt und nicht etwa in chaotische Partialschwingungen „aufbricht“.
Wo der Tieftöner das ganze Lautsprechervolumen nutzen darf, gibt es für den Hochtöner nur einen ruhigen Arbeitsplatz: eine versiegelte, für Luftschall unempfindliche Kammer. In der Vertex sitzt die Semisphere-Kalotte deswegen in einem geschlossenen Aluminiumgehäuse von einem Kilogramm Gewicht. Mit einer „organischen Geometrie“ des Kammer-Inneren soll der rückwärtig abgestrahlte Schall neutralisiert werden. Das funktioniert so gut, dass Wilson Benesch auf zusätzliches Dämmaterial verzichtet.

Mit Kohlefaserskelett
Das Magnetsystem bedient sich ungewöhnlicherweise einer Anzahl kleiner Neodymmagneten, die kreisförmig zwischen zwei Pol- Ringen angeordnet sind. Dass in der Membran Kohlefasern eingearbeitet sind, sieht man ihr nicht an. Craig Milnes spricht hier von einer Skelettstruktur, die die Steifigkeit der Kalotte erhöhen soll. Die Montageplatte ist als sogenannter Waveguide ausgebildet, also ansatzweise hornförmig, aber zu flach, um einen echten Horneffekt zu bewirken. Es geht aber auch nicht um Wirkungsgrad, nur die Abstrahlung soll auf diese Weise kontrolliert werden. Die wenigen Frequenzweichenbauteile sind klugerweise im Standfuß ausgelagert, wo kein Luftschall zu Mikrofonie-Effekten führen kann. Der Fuß selbst ist aus schwarz lackiertem Aluminium gefertigt und bildet mit der Box eine in Form und Funktion schlüssige Einheit. Die Frage, ob sich die Vertex nicht doch abschrauben ließe, stellt sich wegen der nach unten herausragenden Bassreflexrohre ohnehin nicht.
Die Vertex hat Bi-Wiring-Anschlüsse im Standfuß in Bodennähe. Ich konnte mich nicht zurückhalten und beschrieb Craig Milnes meine sich wiederholenden Multi-Wiring- Erfahrungen: dass selbst die tollsten Kabelbrücken dem Klang abträglich sind und ich mit selbstgelöteten Adaptern (die Plus- und Minus-Pole jeder Box mit kurzen Kabelstücken jeweils zu einem Punkt zusammengeführt, dort der entsprechende Lautsprecherkabel-Pol angeschlossen) durchweg deutlich harmonischere Resultate erziele, die von einer echten Single-Wiring-Konstruktion sicher nochmals übertroffen werden. Craig, wie immer ein überaus offener und angenehmer Gesprächspartner, wirkte ehrlich interessiert.

Sofort spielbereit
Keine Kompaktbox dürfte schneller in Betrieb zu nehmen sein als die Wilson Benesch Vertex. Den fest montierten Ständern sei Dank – aber auch der Ständerbasis mit nur drei Spikes gebührt Lob: Da wackelt nichts! Was geeignete Verstärkerelektronik betrifft, sind die Engländerinnen zudem ausgesprochen unkompliziert. So unterschiedliche Amps wie der US-amerikanische Class-A-Transistor Pass INT-30A, der nur einen Bruchteil leistende italienische Röhren-Vollverstärker Mastersound 300B PSE und natürlich meine Naim-Verstärkerkombi gaben sich die Bananenstecker in die Hand. Die Vertex ließ sich willig führen.
Ich erinnere mich nicht mehr, welche Platte ich als Erste über die Vertex hörte, aber mit ziemlicher Sicherheit war es eine, die auch schon über deren große Schwester, die dreieinhalb mal so teure und fünfmal so schwere A.C.T. C 60, erklang. Puh. Wer Maybach gefahren ist, sollte beim Umstieg in die C-Klasse Realitätssinn bewahren. Wobei der Vergleich mit der Superbox durchaus bei der Verortung hilft.

Ehrlicher Informant Musik hören mit der Vertex hat etwas Kammermusikalisches. Nicht über jede Kompaktbox lässt sich das sagen. Viele begehen den Fehler, ihre beschränkte Größe verleugnen zu wollen. „Bigger than life“ lautet dann die Devise, und ich behaupte nicht, dass das keinen Spaß macht. Nur: Unterbewusst spüre ich die Hochstapelei, und über kurz oder lang stellt sich die Frage: Womit werde ich dauerhaft glücklich? Mit Show oder Doku? Mit Unterhaltung oder Information? Wenn die A.C.T. C 60 die kristallgläserne Panoramafensterfront zum Grand Canyon in der Mittagssonne ist, dann ist die Vertex der Polstersessel im intimen Konzertsaal, 5. Reihe Mitte, bei die Sinne schärfendem gedimmtem Licht. Ob da der nagelneue Hochtöner dahintersteckt? Natürlich stand der obere Frequenzbereich unter besonders kritischer Beobachtung. Die C 60 mit ihrer Bestückung aus skandinavischer Seidenkalotte und vergoldetem japanischem Supertweeter hatte ja Maßstäbe in Sachen Offenheit gesetzt. Erstaunlich, wie anders und dabei kaum weniger attraktiv sich die Semisphere-Kalotte der zwei obersten Oktaven annimmt. Sie pflegt eine ausnehmend zarte, fast zärtliche Behandlung der hohen Frequenzen und verleiht so etwa Schlagzeugbecken einen ungeheuren Nuancenreichtum. Künstlicher Glitzer wird aber nicht verteilt, eher ließe sich wohl der Hochton als warm bezeichnen. Oder schlicht das gesamte Klangbild als ungeheuer homogen.

Blitzsauberer Bassist
Die spektakulären Doppel-Endrohre der Bassreflexgehäuse machen optisch mächtig was her. Akustisch hatten die Entwickler dagegen eher Querschnittsvergrößerung zur Vermeidung von Strömungsgeräuschen im Sinn. Die Vertex sind Hüter der Linearität, präsentieren etwa einen Kontrabass als Bassgeige, mit echten Streichinstrumenten- Klangfarben und ohne dominierendes Wummern. Heimkinoboxen sind sie keine. Dafür müsste man sie mit einem Subwoofer kombinieren. Oh, ein exzellenter Gedanke! Findet sich doch ein runder Tiefstbassgenerator namens Torus im Portfolio der Engländer. Und dann berichtet auch noch jeder, der diesen Verbund gehört hat, Wunderdinge über das Resultat – welche Größe, welche Autorität es nun habe, ein veritables Ereignis sei das Trio … Das fordert geradezu eine Fortsetzung unserer Berichterstattung!
In Räumen kleiner als 20 Quadratmeter sind dagegen die Vertex solo ganz in ihrem Element. Wichtig ist etwas Sorgfalt bei der Aufstellung, und zwar weniger die Einwinkelung als die vertikale Ausrichtung im Verhältnis zur Sitzhöhe. Auf diese Weise lässt sich die Attacke, also die Intensität der Präsenzlagen, noch feinregulieren.

Innovation mit Witz
Die jüngsten Hightech-Offerten aus Sheffield setzen Maßstäbe in Sachen Reinheit und Feinheit der Musikwiedergabe. Und ich muss sagen: Mir gefällt, wie Craig Milnes an die Sache herangeht. Dass er sich die Zeit nimmt, vollständig eigene Treiber zu entwickeln. Dass er damit dem ausgelutschten Thema „dynamische Mehrwege-Lautsprecher“ wieder und wieder innovative Lösungen abringt. Dazu die spektakuläre Perfektion in Sachen Verarbeitung. Da macht ihm keiner was vor. Und er hat Humor. Man nehme, rät er als Antwort auf die Frage nach Beeinflussung der Basswiedergabe, ruhig ein Paar Socken und stopfe sie in die Bassreflexrohre. Schön fest, damit sie dicht sind. Wenn das den gewünschten Effekt brächte, könne man die Socken immer noch durch esoterischeres Material ersetzen – nicht dass sich am Ende das schlechte Gewissen melde wegen würdelosem Umgang mit teuren Schallwandlern. Der Mann gefällt mir.

 

www.wilson-benesch.com

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